«Die gesamte Wirtschaft muss deutlich mehr Lehrstellen im Bereich ICT anbieten»
Judith Bellaiche setzt sich als Nationalrätin und als Geschäftsführerin des Wirtschaftsverbands Swico für den digitalen Fortschritt der Schweiz ein. Im Interview verrät sie uns unter anderem, welche Rolle die Politik beim ICT-Fachkräftemangel spielt, welche Bedeutung sie der Berufsbildung zumisst, was das Berufsfeld in Sachen Diversität besser machen könnte und in welchem Bereich sie den nächsten Zukunftsberuf sieht.
Wie sind Sie zur ICT gekommen?
Eigentlich per Zufall! Als Kantonsrätin habe ich vor einigen Jahren eine Kampagne gegen eine unfaire Besteuerung von Startups geführt. So bin ich in die faszinierende Welt von digitalen Geschäftsmodellen gekommen und engagiere mich nun auch als Nationalrätin für Startups und Digitalisierung.
Was fasziniert Sie daran?
Die unermesslichen Möglichkeiten digitaler Innovationen. Digitalisierung hat so viele Effizienzgewinne ermöglicht, aber das Potential ist noch längst nicht ausgeschöpft. Denken wir nur an die Klimawende, personalisierte Medizin oder Landwirtschaft: hier kann die Digitalisierung uns Menschen noch weiter unterstützen.
Wo sehen Sie als Geschäftsführerin von Swico die grössten Herausforderungen der ICT?
Jede neue Technologie hat zwei Seiten: wo Chancen sind, gibt es auch Gefahren. Das führt zu einem zunehmenden Regulierungsdruck. Es ist herausfordernd, einen angemessenen und innovationsfreundlichen Regulierungsrahmen zu schaffen, der das Vertrauen der Menschen in die Digitalisierung stärkt.
Bis 2030 braucht die Schweiz rund 40’000 zusätzliche ICT-Fachkräfte. Sind wir in der Lage, den zunehmenden Bedarf zu decken?
2030 steht schon vor der Türe. Wenn wir nicht mehr PS auf den Boden bringen, wird es uns nicht gelingen, nein.
Wo sehen Sie die Hauptmassnahmen gegen den ICT-Fachkräftemangel?
Einerseits muss unsere Branche, aber auch die gesamte Wirtschaft, deutlich mehr Lehrstellen im Bereich ICT anbieten. Andererseits kommen wir nicht darum herum, standardisierte Quereinsteigerprogramme aufzubauen und auszurollen, um den Strukturwandel positiv zu begleiten und Erwachsenen den Übertritt in digitale Berufsbilder zu ermöglichen.
Langfristig ist die Schule gefordert: jede und jeder Jugendliche muss nach Schulabschluss über ein ausreichendes digitales Grundwissen verfügen.
«Wir können es uns schlicht nicht leisten, auf Frauen in der Wirtschaft zu verzichten!»
̶ Judith Bellaiche, Nationalrätin und Geschäftsführerin Swico
Welche Rolle spielt dabei die Politik?
Eine wichtige Rolle, vor allem im Bereich Bildung. Es gibt noch grosse Widerstände, der Digitalisierung die Bedeutung in der Schule zu verleihen, die sie verdient. Andere Länder haben da besser und schneller reagiert. Insgesamt fehlt aber der Politik resp. der Regierung eine Vision für die Schweiz: welche Rolle wollen wir in der Digitalisierung spielen, wie vernetzen wir uns mit anderen internationalen Akteuren, und wie erreichen wir unsere Ziele? Derzeit treibt das Land vor sich hin und reagiert anstatt zu agieren. Nur mit einem klaren Kompass können wir die Prioritäten richtig setzen, auch in Bezug auf die Schaffung von Fachkräften.
Welche Bedeutung messen Sie der Berufsbildung für den Wirtschaftsstandort Schweiz zu?
Die Berufsbildung ist ein wesentlicher Pfeiler für die Ausbildung und Förderung von Fachkräften. Sie ist von unserem Wirtschaftsstandort nicht wegzudenken und ist auf einmalige Art mit der Wirtschaft verflochten, denn Unternehmen beteiligen sich damit direkt und gezielt an der Ausbildung junger Menschen.
Wie kann die Berufsbildung in den Unternehmen nachhaltig gestärkt werden?
Die Berufsbildung ist stark! Es ist wichtig, dass sie gegenüber der Wirtschaft, aber auch der Gesellschaft und Politik selbstbewusst auftritt und nicht in die Defensive gerät. Wir sollten auch der Versuchung widerstehen, Berufs- und Gymnasialbildung gegeneinander auszuspielen. Die Berufsbildung hat einen eigenständigen Platz in unserer Bildungslandschaft und ist für junge Menschen ausserordentlich attraktiv. Wir müssen kontinuierlich darauf aufbauen und die Berufsbilder und Lerninhalte an die Entwicklungen der Arbeitswelt anpassen.
Die Berufsbildung sorgt für rund 80 Prozent der ICT-Fachkräfte. Dennoch ist der zuständige Verband strukturell unterfinanziert*. Wie könnte man aus Ihrer Sicht die Finanzierung von ICT-Berufsbildung Schweiz sicherstellen?
Wenn immer möglich bevorzuge ich die Eigenverantwortung der Wirtschaft gegenüber staatlichen Eingriffen. Aber das bedeutet, dass sich die Wirtschaft zusammenraufen und den gemeinsamen Willen entwickeln muss, ihren eigenen Fachkräftepool aufzubauen. Der Zufluss an Fachkräften aus dem Ausland ist nicht länger nachhaltig, denn diese werden vor Ort gebraucht. Deshalb müssen Unternehmen ihre Prioritäten ebenfalls richtig setzen: sie müssen die Bereitschaft aufbringen, die Ausbildung ihrer Fachkräfte mitzufinanzieren.
Warum setzen Sie sich für mehr Frauen in der ICT ein?
Wir können es uns schlicht nicht leisten, auf Frauen in der Wirtschaft zu verzichten! In der ICT sind sie besonders schlecht vertreten, obwohl unsere Branche ausgesprochen attraktive und flexible Arbeitsbedingungen anbietet. Angesichts des Fachkräftemangels muss es uns gelingen, Frauen für unsere Berufe zu gewinnen.
Was können Betriebe tun, um Diversität zu fördern?
Den Betrieben fehlen die weiblichen Vorbilder. Es wird völlig unterschätzt, welche Anziehungskraft diese ausüben. Frauen sollen gleichermassen wie Männer in Führungspositionen tätig sein und als Botschafterinnen für unsere Industrie und Berufe auftreten.
Was könnte aus Ihrer Sicht der nächste Lehrberuf der Zukunft sein?
Vielleicht der «Digital Guide». Sie oder er hilft den Menschen bei der Interaktion mit Künstlicher Intelligenz, leistet Übersetzungsarbeit zwischen Mensch und Maschine und erleichtert deren Zusammenarbeit.
*Ergänzung der Redaktion: das ICT-Berufsfeld kann aufgrund seiner Querschnittsfunktion nicht auf die Finanzierungsmöglichkeiten traditioneller Branchenverbände zurückgreifen (Bsp. Berufsbildungsfonds)